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Bücher, die mich bewogen

Es gibt Bücher, die man gerne liest. Und es gibt jene, die einen zum Handeln bewegen. Die nach der letzten Seite zwar ins Bücherregal wandern, aber im Kopf bleiben – die Reaktion fordern, Handlung mitsichbringen. Fünf dieser Bücher habe ich für die Vorleser_innen zusammengestellt. Eine persönliche Leseliste.

Ein Buch, das Zugang schafft

Ronya Othmann – Die Sommer

Ronya Othmann erzählt in „Die Sommer“ vom Leben zwischen einem Alltag bei München und einem kleinen Ort in Nordsyrien, den Protagonistin Leyla jeden Sommer besucht. Hier wohnen ihre jesidischen Großeltern in einem Dorf, das unendlich weit entfernt scheint. Leyla backt Brot mit ihrer Großmutter, schläft in der Mittagshitze und spürt, dass sie weder hier – an der Grenze zur Türkei – noch im Mittelstandsdeutschland wirklich ankommt. Der Roman, der erst selbst ein bisschen schläfrig beginnt, nimmt irgendwann eine beeindruckende Dringlichkeit an. Und mehr noch: Dieser Debütroman hat mir Zugang zu einem politischen Konflikt gegeben. Hat mich recherchieren lassen, hat Einordnung erfordert. Hat aus Nachrichten ein Gefühl gemacht. Othmann kreiert Verständnis und Empathie dort, wo sie bitternötig sind und erzählt – auch mithilfe der Perspektive von Leylas Vater – subjektiv, streitbar und aufwühlend, was in Nordsyrien (und in Deutschland nicht) passiert.

Ein Buch, das uns wieder nachschlagen lässt

Vielfalt. Das andere Wörterbuch – DUDEN

Gerade in Zeiten politischer Mehr-als-Schieflagen ist es bedeutsam, sich auf zuverlässige Quellen zu berufen und Begrifflichkeiten richtig zu verwenden – beispielweise, um Menschengruppen zu adressieren. Gerade diese Konzepte werden jedoch oft nur über Instakacheln und 30-Sekunden-Videos ins eigene Bewusstsein gespült – und unterliegen einer subjektiven Diskurskultur, bei der Fakt und Meinung verschwimmen. „Vielfalt. Das andere Wörterbuch“ von DUDEN ermöglicht es, eine kleine Einführung in 100 dieser Begriffe zu erhalten – oft aus Betroffenen-, immer aus Expert*innenperspektive. Wie gendere ich Rom*nja und Sinti*zze? Was sind Biodeutsche? Und warum sollte ich besser Verschwörungserzählung als -theorie sagen? Sich wieder auf echten Buchseiten statt digitaler Pages informieren zu können, fühlt sich im besten Sinne anachronistisch und ebenso wichtig an – nicht nur als Lektorin. Und habe ich schon erwähnt, dass „Vielfalt“ Silber schillert?

Die Vorleser_innen verstehen sich als moderner Buchclub: mit persönlichen Buchempfehlungen auf Instagram, einem monatlichen Newsletter mit intimen Insights, dem Steady-Lesezirkel und inspirierenden Online-Events. Ein Ort für Verbindung, Multiperspektivität und Reflexion von Elena und Caroline.

Ein Buch, das abfärbt

Allegro Pastell – Leif Randt

Als ich „Allegro Pastell“ von Leif Randt las, hatte die Pandemie nicht nur das Lesen, sondern auch das (Tagebuch-)Schreiben für mich zu einer Hauptbeschäftigung gemacht. Schnell taucht man ein in das Leben von Tanja und Jerome, die sich irgendwie modern, aber nie wirklich nah, lieben. Mal möchte man ihnen einen Schubs in die richtige Richtung geben, mal ist ihre Selbstbezogenheit quälend, wieder einige Seiten später denke ich über einen Satz dreimal nach. Es ist aber nicht die Storyline, die dieses Buch ausmacht – vielmehr hat es für eine Weile meinen eigenen Schreibstil verändert. Randt formuliert so prägnant, vermag es so gekonnt, das größte aller Gefühle ein wenig auf Distanz zu halten, dass ich mich seinem Stil auch am intimsten Ort, meinem Tagebuch, nicht entziehen konnte. Heute habe ich ihn wieder, meinen Stil, und trotzdem großen Respekt für diese Spezifik. Pastell kann also auch abfärben.

Ein Buch, das alles macht

Everything I know about love – Dolly Alderton

Wenn der Titel einer Zusammenfassung gleicht. In „Everything I know about love“ schreibt Dolly Alderton wirklich alles auf, was sie über die Liebe weiß. Unendlich witzig und an den richtigen Stellen alltagstragisch: Diese Lektüre landete als warme Empfehlung in meinen Händen und verließ sie als mein Lieblingsbuch. Alderton bespricht Freundschaft und Liebe mit der gleichen Sorgfalt, beschreibt platonischen Trennungsschmerz. Sie jagt ihrem eigenen Exzessdrang nach, ist einsam und mittendrin und wird so herrlich klug 30, dass man jegliche Angst vor dem kommenden Jahrzehnt verliert. Dieses Buch hat alles gemacht: Es hat mich gelehrt, dass man als Autorin alles in sein Werk geben darf, soll, muss. Es hat mich Zitate vorlesen und mit Freund*innen darüber diskutieren lassen. Es hat mich in einem Café in Porto in das wärmste Gespräch verwickelt. Es lies mich nicht nur verstehen, was ich selbst über die Liebe weiß, sondern auch, dass es mindestens einer Person auf dieser Welt genauso geht. Ein Buch, das ich seither jeder Person empfehle, die mich fragt.

Ein Buch, das zum Leben erwacht

Schlachtensee – Helene Hegemann

Die Pfauengeschichte ist alles: absurd und lustig, brutal und genau im richtigen Moment zu Ende. Geschrieben hat sie Helene Hegemann als eine von 14 Stories in „Schlachtensee“ – und vorgetragen hat sie die Kurzgeschichte bei einem Festival für junge Literatur in Hamburg. Selbst bei stickiger Luft und schlechter Sicht recken die Gäst*innen ihre Hälse, um der Autorin dabei zuzusehen, wie sie die Pfauengeschichte zum Leben erweckt (auch wenn dem Pfau eher das Gegenteil passiert). Die derbe Sprache, die zu den nicht minder derben Gedanken dieses Buches passt, klingt bei Hegemann genau richtig. Lesen ist oft ein Soloakt, aber an diesem Abend machen wir alles zusammen: lachen, zusammenzucken, wundern, ausatmen. Gerade in Zeiten, in denen (Live-)Kultur so bangen muss, ist „Schlachtensee“ die beste Erinnerung, Lesungen zu besuchen. Und die anderen Stories mit der Autorinnenstimme im Ohr allein auf der Couch zu lesen.

Viel Spaß beim Lesen – und Handeln!