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Neue Zeitgeister beschwören

Und dann saßen wir da, am 15. April 2020. Dieses Datum hat sich wohl bei allen Festivalveranstalter*innen Deutschlands gleich einer sirrenden Tattoonadel unter die Haut gebrannt. Wir können nicht stattfinden, sagt Merkel. Schockstarre. Wie löst man sich aus diesem Zustand, der den ganzen Körper umspannt?

Klar, warum nicht gleich die Weltherrschaft

Meine persönliche Schockstarre löst sich mit einem Anruf von Markus. Markus ist der Initiator, Gründer, Weitertreiber, Krisenmanager und Papa vom Rocken am Brocken. Und ein guter Freund von mir. „Weißt du, was wir jetzt machen müssen?“, fragt er mich. „Wir müssen jetzt ein Konzept entwickeln, Festivalkultur ins Digitale zu übertragen. Wie die Streams, die jetzt soziale Medien fluten, aber in geil.“ Ich lächle müde und frage mich, wo dieser Mann seine Steh-auf-Männchen-Attitude hernimmt. „Und dann?“, frage ich matt in den Hörer. „Und dann pitchen wir das ARTE.“ Mein müdes Lächeln erblüht zu einem trockenen Auflachen. Klar, warum nicht gleich die Weltherrschaft. Aber dann fangen wir an zu spinnen: Es müsste schöne Bühnen geben, keine lieblos abgehängten Tower links und rechts. Da muss soziale Nähe bei physischer Distanz sein, aber irgendwie digital. Und Festivals müssen irgendwie im Garten stattfinden.

Die Geister, die ich rief

Und dann überschlägt sich meine Stimme: „Und weißt du, wie wir das Ganze nennen? Zeitgeist Festival!“. Warum diese Idee meinen Kopf stürmt wie die Franzosen 1789 die Bastille: Auf der einen Seite, weil im März 2020 die Tagesschau nur von Geisterspielen zu berichten weiß. Von leeren Stadien, noch bevor die Kneipen zu Geisterkneipen wurden und die Innenstädte zu … naja, ihr ahnt es. Und auf der anderen Seite spüre ich dieses Brodeln, dass die Pandemie ausgelöst hat. Neue Formate, Zusammenschlüsse und Ideen in der Kulturlandschaft sprießen hervor, sind gar nicht aufzuhalten. Ein neuer Zeitgeist für Festivals und die Musikbranche muss her – denn Musik findet immer ihren Weg. Und wir müssen diese Geister beschwören! Markus holt Hannes ins Boot, wir sind ein gutes Team. Die Ideen kommen von ganz allein und überschlagen sich in nächtlichen Zoomcalls. Schnell ist uns klar, dass wir diese Geister nicht alleine beschwören wollen. Das Appletree Garden Festival (das leider letztlich wieder ausscheiden musste), das Sound of the Forest Festival aus dem Odenwald und das Watt en Schlick Fest aus dem hohen Norden werden zu unseren Mitbeschwörern. Warum ausgerechnet diese wunderbaren Independent-Festivals? Wir finden nämlich zeitgleich statt und stellen – das sage ich mal ganz unbescheiden – sonst die junge Festivalnation Jahr vor Jahr vor die schwierige Entscheidung, wo sie am letzten Juli- bzw. ersten Augustwochenende ihr Zeltlager errichten sollen. In einem digitalen Format müsste man sich da endlich nicht mehr entscheiden – ein Lichtblick.

Zeitgleich – ein gutes Stichwort

Der Pitch zu dem Konzept stammt – eine gut erprobte Arbeitsteilung – aus meiner Feder und wird mit hoffnungsvollem Blick auf den Senden-Button an den renommierten TV-Sender geschickt. Was dann folgt, ist ein durchaus aufwendiger Kommunikationsprozess, gespickt mit Tausend Unwägbarkeiten, die gespenstisch um die Grundidee schweben. Ein großes Thema: der Name. Denn das „Zeitgleich Festival“ gibt es schon (Mist!) und so wird unser Projekt zum „Geist der Zeit Festival“, was in seiner Bedeutung so gut ist, dann aber doch etwas sperrig über die Lippen geht. Der Impuls kommt vom Watt En Schlick-Team, die parallele Austragung zum Anlass zu nehmen und unser gemeinsames Projekt „Zeitgleich Festival“ zu nennen. Gut, machen wir so!

Das Meer rauscht, die Berge singen, der See ruft – Arte sendet

Ihr ahnt es schon: Hätte Arte das Konzept abgeschmettert, hätten wir keine Acts wie Bosse, Meute oder Joris gewinnen können, wären wir in Telkos und Mailverläufen ertrunken, würde ich diesen Beitrag nicht verfassen. Das Zeitgleich Festival 2020 findet statt. Acht Stunden Live-Stream, 15 Acts, Bühnen quer durch die Republik, eine Austragung im Rotationsprinzip. Am 1. August 2020 wird die aufwendige Produktion in Zusammenarbeit mit der Produktionsfirma Sollution umgesetzt; auch einen TV-Zusammenschnitt auf Arte soll es im Nachgang geben. Sogar ein kleines Publikum dürfen wir einladen. Für uns ist klar, dass wir die Rocken am Brocken Familie nach Elend einladen. Was das Zeitgleich Festival für uns ebenfalls heißt:

Das Rocken am Brocken kommt ins Fernsehen!

Wir haben einen Weg gefunden, uns am Brocken gemeinsam einzufinden und unsere Bühnen zu errichten!

Wir haben solidarisch in Zeiten der Krise ein Zeichen für kulturelle Vielfalt und Musik gesetzt!

Damn, das sind wirklich Geister, die ich nicht mehr loswerden möchte.

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Das Grundrauschen eines ungewöhnlichen Sommers

Die Umarmung fehlt, die Herzlichkeit keineswegs: So finden sich Vertreter*innen des Appletree Garden Festivals, SNNTG Festivals und wir vom Rocken am Brocken Festival vor einiger Zeit zusammen. Online versteht sich, auf Zoom, um 11 Uhr vormittags, die Kamera läuft. Wir sprechen über den Status Quo der Festivallandschaft und wagen einen schüchternen, aber dennoch hoffnungsvollen Blick in die Zukunft unserer Branche.

Ich habe bei diesem Gespräch eine Doppelmission: Ich spreche als Mitveranstalterin des Rocken am Brockens angeregt mit, dabei fliegt meine Hand jedoch auch über das karierte Papier meines Notizblocks. Denn aus dem Gespräch soll auch ein Artikel für Hoeme, dem Magazin für Festivalkultur entstehen. Und genau das ist passiert. Ein Dialog über Ängste und Chancen, online und offline, Zukunft und Gegenwart. Für mich war die Position als Schreiberin und Rednerin neu – sie hat mich gezwungen, Genregrenzen einzureißen und meine Person als Autorin beim Lesen spürbar zu machen. Das Ergebnis lest ihr hier. Viel Spaß!